Das professionelle Gespräch gehört zum politischen Berlin. Sei es bei Frühstücken von Politikern, Journalisten, Wissenschaftlern, Lobbyisten in Cafés Unter den Linden, sei es bei einem Parlamentarischen Abend, sei es in offiziellen Terminen im Ministerium, beim Verband, einer Partei und nicht zuletzt: den sogenannten Hintergrundrunden.
Die rasche Begegnung, der schnelle Allgemeinplatz zur politischen Situation, das oberflächliche Miteinander – das kennzeichnet diese Gespräche nur zu oft. Und auch Rede und Gegenrede eines Podiums sind oft so vorhersehbar wie sizilianisches Marionettentheater: Wir tauschen unsere Meinung nicht aus; wir inszenieren unsere Positionen.
Das professionelle Gespräch im politischen Berlin unterliegt einer Eigengesetzlichkeit und folgt strikt dem Borchardt‘schen Rasiermesser: „könnte wichtig sein“. Das wird dann leger bei Wildkräutersalat oder Plat du Jour abgetastet. Die Überraschung hält sich dabei allzu oft in gesicherten Grenzen, der Erkenntnisgewinn mitunter auch. Aber es mag vielleicht eine Indiskretion oder zumindest eine elegantere Formulierung oder ein Begriff herausspringen für das, was hoffentlich bald alle denken werden. Oder man sieht am Nebentisch eine Konstellation, deren Gespräch gar nicht gehört werden muss, um eine Neuigkeit zu sein. Das ist die harte Währung, mit der man weiterhin als politischer Insider reüssiert: die Informationen fließen wie trockener Winzersekt
Ganz anders funktionierte dagegen die Salonkultur! Miteinander zu debattieren, sich schlicht zu zuhören, um Worte zu ringen, im gegenseitigen Respekt zu streiten, um Positionen sanft zu verschieben und zu besserer Erkenntnis vorzudringen – darum ging es hier.
Die Berliner Mittwochsgesellschaft traf sich, jeden zweiten Mittwoch, von 1863 bis 1944. Sie nannte sich „Freie Gesellschaft für wissenschaftliche Unterhaltung.“ Alle jeweils 16 Mitglieder waren anerkannte Experten in ihrem Fachgebiet und hatten meist besondere Positionen im öffentlichen Leben inne. Diskussionen über Tagespolitik sollten keinen Platz haben. Der jeweilige Gastgeber, ein Mitglied der Mittwochsgesellschaft, hielt zunächst einen Vortrag aus seinem wissenschaftlichen Fachgebiet, bevor man sich dann bei Speis und Trank weiter austauschte. Die Gründung solcher Gesellschaften war in dieser Zeit nicht selten, denn „sie standen in der Tradition der bürgerlichen Aufklärung, in der man Gelehrsamkeit und Unterhaltung noch zu verbinden wusste“ (Klaus Scholder).
Die Mittwochsgesellschaft wurde 1996 in Berlin von Marion Gräfin Dönhoff und Richard von Weizsäcker in Anknüpfung an die Traditionen der Mittwochsgesellschaft von 1863 wiederbegründet. Von der Qualität dieser Gesellschaft und ihrer Debatten – der alten wie der neuen Berliner Mittwochsgesellschaft – zeugen neben ihren Schriften und Protokollen vor allem auch die Liste ihrer Mitglieder. In der Phase von 1863 bis 1944 gehörten dazu zum Beispiel der Chirurg Ferdinand Sauerbruch, der Philosoph Eduard Spranger oder der Physiker Werner Heisenberg. Prominente Mitglieder der Mittwochsgesellschaft seit 1996 waren etwa Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Günter de Bruyn und Wolf Lepenies.
Man kann diese Salonkultur nicht ohne weiteres in die Gegenwart übertragen. Man kann sie nicht kopieren; aber man kann in ihrem Geiste versuchen, etwas Neues zu schaffen.
Die Berliner Mittwochsgesellschaft des Handels, gegründet 2010, interpretiert sie mit heutigen Mitteln und orchestriert sie mit den Medien unserer Zeit.
Der Salon findet nicht nur im zuvor bestimmten Raum zur festgesetzten Zeit – er findet auch im Smartphone statt – auf Youtube, Twitter oder live im „Social Streaming“. Hirnforscher, Ministerpräsidenten und Festivaldirektoren, Kardinäle und Minister – sie sprechen, sie werden gefragt und sie versuchen, zu antworten in diesem Salon. Und dazu gehört auch, dass wir uns im Kontinuität in der Moderation zu bemühen, denn es tut der Veranstaltung gut, wenn der Moderator das Konzept nicht nur versteht, sondern auch lebt: im Vordergrund steht der Dialog.
Zum Selbstverständnis der neuen Mittwochsgesellschaft gehört es aber nach wie vor „einen schönen Abend“ miteinander zu verbringen, Gespräche zu ermöglichen, Anregungen zu bieten und gemeinsam Gutes zu essen und zu trinken – denn Essen ist heute politischer denn je, wie Dieter Kosslick bei der 19. Mittwochsgesellschaft des Handels sinngemäß bemerkte.
Über 20 Mittwochsgesellschaften des Handels haben bereits stattgefunden. In Kooperation mit dem Handelsverband Deutschland e.V. und der Bundesvereinigung Großhandel, Außenhandel und Dienstleistungen e.V. lädt die METRO GROUP seit mehr als fünf Jahren dazu ein. In Brüssel wird die Veranstaltung indes gemeinsam mit der Lebensmittelindustrie, der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE) durchgeführt. Zukünftig ist geplant, mit dem Format an der Wiege der Salonkultur, in Wien zu starten.
Die Mittwochsgesellschaft des Handels will mehr sein als eine Veranstaltung mit prominenten Gästen, gutem Essen und noch besseren 199 Gesprächen. Sie ist zugleich ein Instrument der modernen Interessenvertretung. Sie ist Teil eines neuen Ansatzes politischer Kommunikation von Unternehmen. Wir nennen diesen Ansatz verantwortliche Interessenvertretung (responsible lobbying).
Diese Form der Interessenvertretung unterscheidet sich von der klassischen Form sowohl in Bezug auf die Inhalte der Lobbyarbeit (Inhalte) als auch dadurch, wie mit politischen Entscheidungsträgern und anderen Stakeholdern kommuniziert und kooperiert wird (Prozess). Im Mittelpunkt steht der offene Dialog, der als ein wirklicher Dialog angelegt ist: An die Stelle intransparenter Gespräche oder dem öffentlichen Schlagabtausch, die zum Repertoire des klassischen Lobbyings gehörten, tritt nun ein multidimensionaler Lernprozess, der von einer schlichten Erkenntnis ausgeht: Unternehmen sind Teil eines Problems, sie haben sicher großen Anteil am übermäßigen und ungleichen Ressourcenverbrauch, aber sie sind vor allem Teil der Lösung. Wir sind überzeugt: Unternehmen können mit ihrem Engagement besser zur Weiterentwicklung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen beitragen als die meisten anderen Akteure.
Ja, sie lesen richtig. Beraten, gegenseitiges Lernen, Experimentieren und nach neuen Lösungen suchen, Verantwortung übernehmen und mehr – all das wird Unternehmen zugetraut. Aber Entscheiden soll alleine die Politik – losgelöst von Interessen? Seit längerem zeichnet sich ab: Kein gesellschaftliches System kann heute alleine eine klar umgrenzte Verantwortung tragen. Heute gibt es in den großen Fragen nur noch geteilte, gemeinsame Verantwortung. Das hat Konsequenzen. Unsere Sorge ist daher nicht, dass Vertreter von Wirtschaft, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik zu viel miteinander reden, sondern, dass bisher zu wenig Dialog stattfindet und dass der stattfindende Dialog in erwartbaren Rahmenbedingungen stattfindet: Redner redet lang, die Zuhörenden erhalten wenig Möglichkeiten der Nachfrage, geschweige denn die Möglichkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen.
Verantwortliche Interessenvertretung arbeitet dabei komplett anders als ihr klassischer Vorläufer. Die Höchstpunktzahl erhält nicht derjenige, der einen kurzfristigen Vorteil, gegenüber dem Wettbewerber erzielt, sondern diejenigen, die das Zusammenwirken auch von Wettbewerbern ermöglichen, um gesellschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen. Gesellschaftlicher Fortschritt bedeutet in diesem Fall einen Schritt in Richtung nachhaltiges Leben und Wirtschaften zu ermöglichen.
Was die digitale Kommunikation dabei leisten kann, ist die erforderliche Geschwindigkeit und Transparenz, die gesellschaftlichen Fortschritt in der gebotenen Eile ermöglichen. Und mit dieser neuen Transparenz experimentieren wir bei der Mittwochsgesellschaft des Handels in einer Mischform von physischem und virtuellem Dialog.
Einige Wochen vor der Veranstaltung veröffentlichen wir die Thesen des Gastes im Internet. Jeder kann diese lesen – aber auch mitdiskutieren und Fragen stellen. Diese Fragen werden dann am Abend der Veranstaltung von unserem Moderator mit aufgegriffen. Wenn der Online-Fragesteller im Raum ist, hat er die Möglichkeit, seine Frage zu ergänzen oder bei einer Antwort eine Rückfrage zu stellen. Wenn nicht, dann wird wenigstens seine Frage diskutiert.
Dass die Thesen online gestellt werden, erhöht die Interaktion, die Partizipation – und die Vorfreude auf den Abend.
Auch während der Veranstaltung wollen wir weitere Kanäle für die Diskussion zur Verfügung stellen. Über Twitter können sich unsere Gäste unter dem so genannten Hashtag #mgber während der Veranstaltung vernetzen und ihre Meinungen und Argumente in sozialen Netzwerken austauschen. Und auch Menschen, die nicht vor Ort sind, können so teilhaben.
Auch die Nachbereitung funktioniert transparent: Schon wenige Tage nach der Veranstaltung finden sich die komplette Rede und ein redaktioneller Video-Beitrag für alle online verfügbar auf unserer Internetseite sowie auf einem eigenen youtube-Kanal. Im Video-Beitrag lassen wir den Gastredner, aber auch unsere Gäste zu Wort kommen – fragen sie nach ihrer Meinung zum Thema und zum Abend selbst. Wichtig für das Gelingen: Es kommen weniger METRO-Mitarbeiter oder Verbandsmitglieder zu Wort. Nein, gerade Gäste, die die Themen anders sehen, sollen auch vertreten sein.
Diese Instrumente sorgen letztendlich nicht nur für eine höhere Sichtbarkeit des Events, sondern sie erhöhen, durch die Integration unterschiedlicher Gruppen, auch spürbar die Qualität der Berliner Mittwochsgesellschaft.
Der verstärkte Einbezug digitaler Kommunikationskanäle in diese Aktivitäten, sei es die Positionierung zu einem bestimmten Thema oder das Bewerben politischer Veranstaltungen, ist ein spannender Prozess, den wir nicht nur begleiten wollen – wir wollen Vorreiter sein.
So experimentieren wir mit „Social Streaming“-Diensten wie Periscope, die den Impulsvortrag unserer Referenten live auf Twitter übertragen. Interessierte Twitter-Nutzer können den Vortrag in Echtzeit verfolgen und bald auch Fragen stellen, ohne in Person anwesend zu sein – diese Form von Partizipation war beim Start der Veranstaltungsreihe noch undenkbar.
Natürlich: Auch bei uns klappt nicht alles so, wie wir es uns vorstellen. Selbstverständlich würden wir gerne mehr Frauen als Referentinnen haben, aber wenn wir die Verantwortlichen für bestimmte Themenfelder hören wollen, dann sind das mehr Männer als Frauen, zumindest noch heute. Trotzdem fragen wir bewusst Frauen als Referentinnen an, haben aber die Erfahrung gemacht, dass angefragte Rednerinnen leichter absagen als Männer, einmal sogar mit der Begründung, dass das Format zu transparent sei. Schließlich ist es (sehr selten) vorgekommen, dass ein Referent nur unter der Bedingung zusagt, dass von ihm keine Videos auf YouTube hochgeladen werden. Oder dass die Thesen uns erst wenige Tage vor dem Event zugesendet werden. Das sind aber die Ausnahmen und wir arbeiten daran, noch besser zu erläutern, warum Thesen, offene Kommunikation zum Selbstverständnis des Formats gehören. Und es dauert eben seine Zeit, 203 bis sich die Skepsis bei Manchen legt und neuen Instrumenten Vertrauen geschenkt wird.
Doch wir sind uns sicher: Soziale Medien verändern Politik nachhaltig. Der kommunikative Hoheitsverlust, den auch unsere Instrumente mit sich bringen, führt hoffentlich zu mehr Meinung zurück – und nicht zu geschliffen gesprochenen Presseverlautbarungen.