Inwiefern spielt die regionale Identität bei der Wertschätzung für Lebensmittel eine Rolle?
Winter: Nehmen wir das Beispiel Thüringer Bratwurst, eine europaweit geschützte Spezialität. Da diskutieren die Menschen im Land über Qualität, vergleichen bewusst und tauschen sich über die besten Fleischer aus. Der Preis ist dann nachrangig. Hier steht das Handwerkliche im Vordergrund und man ist stolz darauf. Regionale Identität ist möglicherweise sogar eine der Stellschrauben, wenn es um das Bewusstsein für Lebensmittel geht.
de Teran: Wenn wir hingegen einen Stapel Billigsalami im Kühlschrank haben, fehlt uns meistens die Wertschätzung für das Lebensmittel. Da fragen wir uns nicht: Woher kommt das Fleisch? Wie hat das Tier gelebt? Wie wurde es gehalten und später geschlachtet? Oder: Wie viel verdienen die Mitarbeiter im Betrieb? Diese Waren sind günstig und werden dann eher weggeworfen als jene, bei denen eine Wertigkeit dahintersteht.
Die Vereinten Nationen haben für 2030 Nachhaltigkeitsziele – Sustainable Development Goals, kurz: SDGs – festgelegt. Unter anderem soll die Lebensmittelverschwendung auf Einzelhandels- und Verbraucherebene pro Kopf halbiert und Lebensmittelverluste entlang der gesamten Produktions- und Lieferkette reduziert werden. Wie bewerten sie diesen Schritt?
de Teran: Deutschland hat sich zwar verpflichtet, die Vorgaben zu erfüllen. Wenn wir aber in naher Zukunft die Lebensmittelverschwendung halbieren wollen, müssen wir erst einmal wissen, von welchen Zahlen wir ausgehen sollen. Die Schätzungen in Deutschland liegen bei 10 bis 18 Millionen Tonnen. Wir brauchen dringend eine einheitliche Berechnungsgrundlage. Dies sollte auf Europäischer Ebene festgelegt werden. Das heißt nicht, dass Deutschland bis dahin ausharren sollte, sondern im Gegenteil. Es ist Aufgabe der Politik, eine gesamtgesellschaftliche Diskussion in Gang zu bringen, runde Tische zu etablieren und alle Akteure in die Pflicht zu nehmen – von der Landwirtschaft über die Weiterverarbeitung und den Handel bis hin zum Großverbraucher.
Winter: Das Nachhaltigkeitsziel für 2030 ist vor allem ein politisches. Denn eine Messbarkeit und Ausgangsdaten liegen in der Tat noch nicht vor. Aber das Ziel bringt uns dazu, überhaupt erst einmal ein einheitliches Messsystem aufzubauen. Es geht dabei vor allem um die Frage des Aufwands: Die Forscher wollen bei der Messung viele fachlich durchaus korrekte Faktoren berücksichtigen. Für diejenigen, die die Daten liefern sollen – die Mitgliedsstaaten, der Handel, die Produzenten – muss so ein System jedoch vor allem handhabbar sein. Die Herausforderung ist also, einen Weg zu finden, der die Messbarkeit wenigstens zu 70 oder 80 Prozent ermöglicht, um damit die Basis für eine Vergleichbarkeit zu schaffen. Zugleich müssen die Berichtspflichten für die jeweiligen Akteure im Rahmen des Machbaren bleiben.
Warum ist es so schwierig, eine gemeinsame Methode zur Erhebung verlässlicher Zahlen zu finden?
de Teran: Das Problem ist vor allem die Definition und der Art der Erhebung. Werden zum Beispiel nur die vermeidbaren Lebensmittelabfälle oder auch die unvermeidbaren Lebensmittelabfälle, wie zum Beispiel Knochen, erfasst? Zudem gibt es unterschiedliche Definitionen pro Wertschöpfungskette, etwa in der Landwirtschaft. So gilt Obst und Gemüse, welches auf dem Acker als sogenannte Gründüngung untergepflügt wird, weil es unter anderem nicht den optischen Normen entspricht, nicht als Lebensmittelabfall. Selbst der erste weltweite Standard vom World Resources Institute, das „Food Loss & Waste Protocol“, überlässt die Zuordnung letztlich den Anwendern. Das wiederum erschwert die Vergleichbarkeit.
Könnte die EU-Kommission hier ein Machtwort sprechen?
Winter: Tatsächlich ist noch für dieses Jahr ein Vorschlag der EU-Kommission für eine gemeinsame Messmethodik als Teil des Aktionsplans Kreislaufwirtschaft geplant. Aber die EU-Kommission entscheidet nichts. Ihre Rolle ist es Vorschläge zu machen, über die dann das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union, also die zuständigen Fachminister der Mitgliedsstaaten abstimmen. Dieser Unterschied ist wichtig. Sonst heißt es leicht: Das entscheidet alles Brüssel. Aber es gibt dort eine Reihe von Akteuren, die an Entscheidungen mitarbeiten. Zum Thema Lebensmittelverschwendung wurde von der EU-Kommission eine eigene Stakeholder-Plattform initiiert. In diesem Rahmen arbeiten Vertreter aus Politik, Lebensmittellieferkette, Verbraucherorganisationen sowie andere Nichtregierungsorganisationen gemeinsam an Lösungen.