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Autor: METRO Team

Jedes verschwendete Lebensmittel ist eine verschwendete Ressource

28. Oktober 2016
Interview mit Dr. Babette Winter (Thüringer Staatskanzlei) und Tanja Dräger de Teran (WWF Deutschland)

Wir sprachen mit Dr. Babette Winter (Staatssekretärin für Kultur und Europa in der Thüringer Staatskanzlei) und Tanja Dräger de Teran (Referentin für nachhaltige Landnutzung, Klimaschutz und Ernährung beim WWF Deutschland) über Lebensmittelverschwendung und Möglichkeiten, sie zu vermeiden.

Interview Dräger Winter

Wie oft kommt es bei Ihnen zu Hause vor, dass Sie Lebensmittel wegwerfen müssen? Und was tun Sie, damit es möglichst nicht passiert?

Tanja Dräger de Teran: Wir haben zwei Kinder und viel Besuch. Es ist bei uns nicht immer leicht zu koordinieren, wieviel eingekauft wird. Aber wir achten gemeinsam auf einfache Mechanismen, holen zum Beispiel Dinge im Kühlschrank nach vorn, die bald verfallen und als nächstes gegessen werden sollten. Ich selbst habe mich beim Kochen von Resten verbessert und bin erfinderischer geworden. Es kommt natürlich immer mal vor, dass etwas stehen bleibt, aber es ist schon viel weniger geworden.

Dr. Babette Winter: Seit bei uns die Familienphase mit Kindern vorbei ist und weil ich außerdem viel beruflich unterwegs bin, ist es leider so, dass mehr Lebensmittel übrig bleiben. Da muss ich mich entscheiden, ob der Kühlschrank eher leer bleibt oder ich die Lebensmittelvielfalt wenigstens in Teilen genieße. Aber selbst wenn ich kleine Portionen kaufe, bleibt immer wieder mal ein Rest übrig. Das ärgert mich, auch weil ich als Enkelkind der Kriegsgeneration anders sozialisiert wurde.

Wie beurteilen Sie die Wertschätzung für Lebensmittel in Deutschland heute?

Winter: Einerseits gibt es ein ausgeprägtes Bewusstsein für Ernährung. Das begann mit der Slow-Food-Bewegung, mit regionalen und Bio-Lebensmitteln. Deren Anteil wächst stetig. Aber für die Mehrheit der Bevölkerung geht es vor allem um den niedrigen Preis, was natürlich auch eine Frage des Einkommens ist. Im europäischen Ausland, etwa in Brüssel, wo ich eine Zeit gelebt habe, haben Lebensmittel oft eine andere Wertigkeit. Die Menschen sind dort bereit, mehr Geld dafür auszugeben.

Teran: Deutschland ist mit rund 10 Prozent des Einkommens, die für Lebensmittel ausgegeben werden, fast das Schlusslicht in Europa. Jedoch sehe ich auch den Mini-Trend, dass handwerkliche Qualität, etwa bei Wurst und Käse, mehr nachgefragt wird. Das gibt Mut, dass Wertigkeit zunehmend wieder mehr geschätzt wird.

Wo könnte man ansetzen, um die Wertschätzung von Lebensmitteln zu stärken und Lebensmittelverschwendung zu vermeiden?

Winter: An vielen Punkten. Das beginnt mit der Haltung: Spätestens seit den Neunzigerjahren ist überall in Deutschland alles verfügbar. Auch wenn im Januar keine heimischen Erdbeeren wachsen – viele kaufen sie trotzdem. Hier sollten wir umdenken. Zudem muss es nicht jeden Tag Fleisch sein und auch fünf Tage alter Käse ist noch genießbar. Mit Ordnungspolitik kommen wir hier nur bedingt weiter. Rechtlicher Druck führt oft zu umfassenden Diskussionen – das haben wir zum Beispiel im Umweltbereich beim Verbot der Glühbirne gesehen. Verbote werden sofort als Einschränkung der persönlichen Freiheit empfunden. In diesem Spannungsfeld ist es für die Politik nicht einfach.

de Teran: Der Blick in unsere Vergangenheit ist wichtig. Erst lebten wir mit der Knappheit, jetzt haben wir Waren im Überfluss. Alle Akteure handeln entsprechend, auch die Gastronomie. Sie bietet heute reichliche Buffets und große Portionen, um konkurrenzfähig zu sein. Auch dort sollten wir umdenken. Etwa in Hotels und Restaurants: Buffetbefüllung oder Front Cooking wären hier Stellschrauben. Das ist natürlich auch eine Kosten- und Personalfrage. Ganz generell fordert der WWF seit Jahren eine gemeinsame Strategie, um alle Beteiligten ins Boot zu holen. Ein Vorschlag, auch aus den Bundesländern, ist eine nationale Koordinierungsstelle, die eine nationale Strategie für Maßnahmen gegen Lebensmittelverschwendung erarbeitet.

Tanja Dräger de Teran

Tanja Dräger de Teran

Dr. Babette Winter

Dr. Babette Winter

Inwiefern spielt die regionale Identität bei der Wertschätzung für Lebensmittel eine Rolle?

Winter: Nehmen wir das Beispiel Thüringer Bratwurst, eine europaweit geschützte Spezialität. Da diskutieren die Menschen im Land über Qualität, vergleichen bewusst und tauschen sich über die besten Fleischer aus. Der Preis ist dann nachrangig. Hier steht das Handwerkliche im Vordergrund und man ist stolz darauf. Regionale Identität ist möglicherweise sogar eine der Stellschrauben, wenn es um das Bewusstsein für Lebensmittel geht.

de Teran: Wenn wir hingegen einen Stapel Billigsalami im Kühlschrank haben, fehlt uns meistens die Wertschätzung für das Lebensmittel. Da fragen wir uns nicht: Woher kommt das Fleisch? Wie hat das Tier gelebt? Wie wurde es gehalten und später geschlachtet? Oder: Wie viel verdienen die Mitarbeiter im Betrieb? Diese Waren sind günstig und werden dann eher weggeworfen als jene, bei denen eine Wertigkeit dahintersteht.

Die Vereinten Nationen haben für 2030 Nachhaltigkeitsziele – Sustainable Development Goals, kurz: SDGs – festgelegt. Unter anderem soll die Lebensmittelverschwendung auf Einzelhandels- und Verbraucherebene pro Kopf halbiert und Lebensmittelverluste entlang der gesamten Produktions- und Lieferkette reduziert werden. Wie bewerten sie diesen Schritt?

de Teran: Deutschland hat sich zwar verpflichtet, die Vorgaben zu erfüllen. Wenn wir aber in naher Zukunft die Lebensmittelverschwendung halbieren wollen, müssen wir erst einmal wissen, von welchen Zahlen wir ausgehen sollen. Die Schätzungen in Deutschland liegen bei 10 bis 18 Millionen Tonnen. Wir brauchen dringend eine einheitliche Berechnungsgrundlage. Dies sollte auf Europäischer Ebene festgelegt werden. Das heißt nicht, dass Deutschland bis dahin ausharren sollte, sondern im Gegenteil. Es ist Aufgabe der Politik, eine gesamtgesellschaftliche Diskussion in Gang zu bringen, runde Tische zu etablieren und alle Akteure in die Pflicht zu nehmen – von der Landwirtschaft über die Weiterverarbeitung und den Handel bis hin zum Großverbraucher.

Winter: Das Nachhaltigkeitsziel für 2030 ist vor allem ein politisches. Denn eine Messbarkeit und Ausgangsdaten liegen in der Tat noch nicht vor. Aber das Ziel bringt uns dazu, überhaupt erst einmal ein einheitliches Messsystem aufzubauen. Es geht dabei vor allem um die Frage des Aufwands: Die Forscher wollen bei der Messung viele fachlich durchaus korrekte Faktoren berücksichtigen. Für diejenigen, die die Daten liefern sollen – die Mitgliedsstaaten, der Handel, die Produzenten – muss so ein System jedoch vor allem handhabbar sein. Die Herausforderung ist also, einen Weg zu finden, der die Messbarkeit wenigstens zu 70 oder 80 Prozent ermöglicht, um damit die Basis für eine Vergleichbarkeit zu schaffen. Zugleich müssen die Berichtspflichten für die jeweiligen Akteure im Rahmen des Machbaren bleiben.

Warum ist es so schwierig, eine gemeinsame Methode zur Erhebung verlässlicher Zahlen zu finden?

de Teran: Das Problem ist vor allem die Definition und der Art der Erhebung. Werden zum Beispiel nur die vermeidbaren Lebensmittelabfälle oder auch die unvermeidbaren Lebensmittelabfälle, wie zum Beispiel Knochen, erfasst? Zudem gibt es unterschiedliche Definitionen pro Wertschöpfungskette, etwa in der Landwirtschaft. So gilt Obst und Gemüse, welches auf dem Acker als sogenannte Gründüngung untergepflügt wird, weil es unter anderem nicht den optischen Normen entspricht, nicht als Lebensmittelabfall. Selbst der erste weltweite Standard vom World Resources Institute, das „Food Loss & Waste Protocol“, überlässt die Zuordnung letztlich den Anwendern. Das wiederum erschwert die Vergleichbarkeit.

Könnte die EU-Kommission hier ein Machtwort sprechen?

Winter: Tatsächlich ist noch für dieses Jahr ein Vorschlag der EU-Kommission für eine gemeinsame Messmethodik als Teil des Aktionsplans Kreislaufwirtschaft geplant. Aber die EU-Kommission entscheidet nichts. Ihre Rolle ist es Vorschläge zu machen, über die dann das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union, also die zuständigen Fachminister der Mitgliedsstaaten abstimmen. Dieser Unterschied ist wichtig. Sonst heißt es leicht: Das entscheidet alles Brüssel. Aber es gibt dort eine Reihe von Akteuren, die an Entscheidungen mitarbeiten. Zum Thema Lebensmittelverschwendung wurde von der EU-Kommission eine eigene Stakeholder-Plattform initiiert. In diesem Rahmen arbeiten Vertreter aus Politik, Lebensmittellieferkette, Verbraucherorganisationen sowie andere Nichtregierungsorganisationen gemeinsam an Lösungen.

Restlos genießen

In Deutschland gibt es aktuell auch beim Mindesthaltbarkeitsdatum intensive Diskussionen, etwa über die Abschaffung bei Trockenprodukten oder die stärkere Unterscheidung zwischen Mindesthaltbarkeits- und Verbrauchsdatum. Wie stehen Sie zu den Vorschlägen?

Winter: Insbesondere bei manchen Trockenprodukten wie Zucker fragt man sich, warum hier überhaupt ein Datum nötig ist. Für leichter Verderbliches wäre ein eindeutiges Verfallsdatum, wie wir es von Fleisch oder Fisch kennen, der richtige Weg. Das ist auch im rechtlichen Sinn verbindlich, zum Schutz des Verbrauchers. Der Unterschied zwischen den beiden Daten verwirrt ohnehin eher.

de Teran: Untersuchungen belegen tatsächlich, dass es oft Fehlinterpretationen bei der Mindesthaltbarkeit gibt. Produkte werden kurz vor Ablauf häufig lieber weggeworfen, ohne dass wirklich noch mal nach der Qualität geschaut wird. Wir brauchen daher einen Begriff, der weniger missverständlich ist. Ein Verfallsdatum ist sicher am eindeutigsten.

Gegen Lebensmittelverschwendung richtet sich auch die Initiative „Zu gut für die Tonne!“ des BMEL. Unter anderem wurden über 17.000 „Beste-Reste-Boxen“ – so heißen Boxen zur Mitnahme von Essensresten – an Restaurants verteilt. Wie bewerten Sie das Potenzial solcher Aktionen?

de Teran: Das ist ein guter Baustein. Es ist allerdings nicht die Gesamtlösung, denn man muss vorher ansetzen. Es ist auch wichtig, dass die Gastronomie überlegt, wie zum Beispiel bei Buffets nicht so viel liegen bleibt. Auch kleinere Portionsgrößen wären sinnvoll, damit ich als Kunde gar nicht erst fragen muss, ob ich meinen Rest mitnehmen kann.

Winter: Die Generation unserer Großeltern hat sich den Rest vom Schnitzel noch einpacken lassen, uns Enkelkindern war das immer etwas peinlich. In Deutschland ist die Nutzung solcher Boxen deshalb noch eher unüblich, bekannter sind sie als „Doggybags“ in den USA. Eine Alternative für die Gastronomie wären in der Tat verschiedene Portionsgrößen, nach Preisen gestaffelt. Eine andere Möglichkeit ist, mittlere Portionen anzubieten, dazu die Option auf Nachschlag, gratis oder gegen einen kleinen Aufpreis.

de Teran: In einem Münchener Brauhaus gibt es neuerdings halbe Haxen. Auf Wunsch kann man für den großen Hunger eine ganze Haxe bestellen. Diese Änderung rettet eine Menge Schweineleben. Für asiatische Touristen gibt es zudem als Option Reis statt Sauerkraut, so spart man Berge an Abfall. Auch die Art der Kommunikation ist wichtig, nicht den Verzicht in den Vordergrund zu stellen, sondern die Wertschätzung.

Ist auch in deutschen Kantinen ein Wandel spürbar?

Winter: Als ich meine Karriere begann, gab es noch diese riesigen Portionen und einen Kantinenwirt vom alten Schlag. Ich bin dann oft nicht mehr zum Essen gegangen, weil ich diese riesigen Essensmengen gar nicht schaffte. Auch vielen Kollegen ging es so. Es hat eine Weile gedauert, bis der Kantinenwirt auch halbe Portionen angeboten hat. Dann kamen natürlich wieder mehr Gäste. Auch hier ist man also inzwischen lernfähig.

Wenn am Ende alle Akteure mit anpacken und es möglichst bald Klarheit über die Messmethoden gibt: Lassen sich die hoch gesteckten UN-Ziele dann erreichen?

Winter: Wir können das schaffen, da bin ich optimistisch. Aber wir müssen jetzt zumindest mit den Messmethoden und einem Bewusstseinswandel beginnen, sonst wird es mit einer globalen Änderung in diesem Ausmaß schwierig. Ein Steuerinstrument, das wir noch nicht angesprochen haben: Bei Förderprogrammen oder bei öffentlichen Aufträgen hilft die Prüfung, ob von den Unternehmen Nachhaltigkeitskriterien befolgt werden.

de Teran: Ob wir wirklich eine Halbierung erreichen, steht noch in Frage. Es ist aber international gesehen wichtig, dass wir uns dieses Ziel gesteckt haben. So gibt es eine Messlatte und einen Rahmen, an dem wir uns orientieren können. Mich stimmt positiv, dass Lebensmittelverschwendung in vielen Ländern ein Thema geworden ist. Ein Vorbild ist Großbritannien: Hier wurde auf der Forschungsebene viel geleistet, die Wirtschaft hat eine gemeinsame Messmethodik auf den Weg gebracht, es gibt fest vereinbarte Ziele. Vor allem aber hat sich in der Szene ein regelrechter Wettbewerb darin etabliert, Lebensmittelabfälle zu vermeiden. Das zeigt uns auch für Deutschland: Es ist möglich, alle Akteure an einen Tisch zu bekommen, gemeinsame Ziele zu vereinbaren und wie in Großbritannien für jeden Bereich der Außer-Haus-Verpflegung Handlungsleitlinien mit praktikablen Tipps und Tricks festzulegen. Es wird vorangehen, auch in Deutschland. Wichtig ist vor allem, dass wir uns immer wieder vergegenwärtigen: Jedes verschwendete Lebensmittel ist eine verschwendete Ressource – und die werden langsam knapp.

Hintergrund zu den Gesprächspartnern

Tanja Dräger de Teran ist seit 2005 Referentin für nachhaltige Landnutzung, Klimaschutz und Ernährung beim WWF Deutschland. Sie verantwortete mehrere Studien zu dem Thema nachhaltige Ernährung und Lebensmittelverschwendung mit einem besonderen Fokus auf deren Auswirkungen auf Umwelt und Klima. Die letzte Studie „Das große Wegschmeißen“ erschien 2015. Von 2000 bis 2005 war die Diplom-Geographin bei Ecologic Institut für Umweltforschung tätig.

Dr. Babette Winter ist seit 2014 Staatssekretärin für Kultur und Europa in der Thüringer Staatskanzlei und in dieser Funktion Berichterstatterin zum EU-Aktionsplan Kreislaufwirtschaft im Ausschuss der Regionen der EU. Berufliche Stationen der promovierten Chemikerin waren die Leitung des Referats für Umweltpolitik im Thüringer Ministerium für Landwirtschaft, Forsten, Umwelt und Naturschutz sowie die Leitung der Pressestelle und Öffentlichkeitsarbeit im Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen.

Lebensmittelverschwendung in der EU