„Wir haben die Chance, die deutsche Esskultur neu zu prägen.“
30. Januar 2019Ein Interview mit dem "Rutz"-Sternekoch Marco Müller
Anlässlich des internationalen Kochwettbewerbs „Bocuse d’Or“ haben wir mit dem Berliner Sternekoch Marco Müller über Esskultur und Spitzengastronomie gesprochen.

Am 29. und 30.1. findet das Finale beim größten und wichtigsten internationalen Kochwettbewerb „Bocuse d’Or“ in Lyon statt und im Februar werden die neuen Sternerestaurants des Guide MICHELIN Deutschland 2019 bekanntgegeben. Anlass für uns, mit einem der besten Sterneköche Deutschlands, Marco Müller, ins Gespräch zu kommen - über Essen als identitätsstiftendes Kulturgut und die Wertschätzung der Spitzengastronomie in Deutschland.
Auf seiner Speisekarte springt einem, neben wohlklingenden Gerichten, der Slogan „Die Rettung der deutschen Esskultur“ ins Auge. Einem leidenschaftlichen Impuls entsprungen das erste Mal aufgeschrieben, hat sich der Spruch längst als Philosophie des Berliner Sternerestaurant „Rutz“ und der „Weinbar Rutz“ bewahrheitet. Regionale Produkte ausgesuchter Spitzenqualität finden hier Eingang in eine raffinierte Küche der Extraklasse.
Wie steht es denn um die deutsche Esskultur? Muss sie gerettet werden?
Definitiv. Musste und muss noch immer. Im Mittelmeerraum gab und gibt es eine weit höher angesiedelte Esskultur. Die Italiener haben ihre Esskultur nach Frankreich gebracht. Die Franzosen haben das, was sie von den Italienern mitbekommen haben, perfektioniert. Aufgrund der kürzeren Sommer in Deutschland ging es bei uns eher darum, Sachen haltbar zu machen und dann erst zu schauen welche Gerichte daraus entstehen konnten.
Aber ich glaube, die deutsche Küche ist im Aufbruch. Wir haben die Chance, etwas selbstbewusster über die deutsche Esskultur zu reden und sie auch neu zu prägen. Zu sehen wo liegen unsere Wurzeln, welche Gemüse hatten wir schon immer in der Region und welche Produkte. Das gilt es neu zu entdecken und zu finden - diese Verbindung zwischen Tradition, Region und einer neuen Identität.
Ist das der Grund, warum Sie sich der deutschen Küche verschrieben haben?
Ich bin so aufgewachsen. Bei uns zuhause wurde mit regionalen Produkten gekocht und ich fand das großartig. Wir hatten alles im Garten und da wurde vom Opa der Kohlrabi geschnitzt und wir haben den gleich gegessen. Später wird man Koch und sieht, dass die Meinungen über die Wertigkeit der heimischen Produkte auseinandergehen. Man sagt ja gern „Der König ist im eigenen Land nichts wert“. Die heimischen Produkte wirkten für uns Deutsche immer irgendwie minderwertig, weil sie vielleicht auch nicht perfekt verarbeitet wurden.
Wir fanden andere Küchen immer interessanter. Die Frage ist nur, wo ist unsere eigene Identität, wenn es die Franzosen und die Asiaten ja schon gibt. Wie kann man mit den Vorurteilen, dass es in Deutschland nur minderwertige oder mittelmäßige Produkte gibt, aufräumen? Wenn ich, als ich angefangen habe zu kochen, gesagt hätte, dass es im Sternerestaurant Forelle geben wird, hätten die mich ausgelacht.
Wir haben die Chance etwas selbstbewusster über die deutsche Esskultur zu reden und sie auch neu zu prägen.

Copyright: Ricarda Spiegel
Sind wir dabei, uns eine neue kulinarische Identität zu schaffen?
Es ist zwischen der guten alten Hausmannskost und der Küche, die wir heute haben, viel passiert. Nach Kriegen und Zeiten des Verzichts und der Entbehrungen, sehen wir heute Entwicklungen wie Globalisierung, den Wandel der Arbeitswelt und Veränderungen bei den Rollenbildern. Zeit wurde immer knapper, Supermärkte sind entstanden, Gemüse gab es nicht nur als Saisonware, Fertigprodukte lockten. Hinzu kam, dass Kochen oft eher als Belastung und nicht als Entspannung betrachtet wurde. Der Slogan „Rettet die deutsche Esskultur“ war bei mir ein reines Vermissen. Manchmal müssen Dinge verschwinden, bevor wir lernen, sie zu vermissen. Gerade in Berlin konnte man dem Bäcker- und Metzgersterben regelrecht zusehen. Das sind Sachen, die müssen wir uns jetzt zurückholen. Das Handwerk muss bewahrt und gefördert werden.
Auf der anderen Seite herrscht eine immer größer werdende Unzufriedenheit. Wenn die Tomate nicht schmeckt, kauft man keine Tomaten mehr und verarbeitet auch keine mehr. Vielen Menschen geht gutes Essen vielleicht noch am Hintern vorbei, aber es werden immer weniger. Immer mehr erkennen, dass Kochen einen gewissen Sexappeal hat, das Essen Spaß machen kann. Die Leute haben vermehrt Interesse an guten Produkten, daran gut zu essen und einfach gesundheitsbewusster zu leben. Und das zeigt für mich, dass das noch nicht das Ende vom Faden ist.
Bei uns ist Essen immer noch eher eine Nahrungsaufnahme als wirklicher Genuss oder auch der Respekt der einzelnen Qualitäten.
Es wird immer gern der Vergleich zu Frankreich bemüht, wo Essen wie ein Nationalgut wahrgenommen wird. Werden wir da jemals hinkommen?
Sag niemals nie, aber ich glaube, dass es schwer werden wird, in Deutschland den gleichen Stellenwert der Kulinarik wie in Frankreich zu erreichen. Bei den Franzosen steckt da ein ganz anderes Lebensgefühl dahinter. Essen, das ist ein ganz anderer Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens.
Ich bin jetzt 30 Jahre lang in der Gastronomie und es hat schon eine Wahnsinnsentwicklung stattgefunden. Ich glaube nicht, dass es einen Stillstand gibt. Aber Berlin-Mitte ist eben nicht Deutschland und wenn ich z.B. nach Schleswig-Holstein fahre und in ein Gasthaus gehe, dann ist das da wie vor 20 oder 30 Jahren. Es hat sich vereinzelt geändert, aber viele wollen sich auch nicht ändern und sind happy damit. Es gibt eine Entwicklung, aber nicht flächendeckend.
Aber: Kulinarisch in der Topgastronomie können wir uns irgendwann definitiv mit dem Weltstandard messen und Frankreich ist uns da schon lange nicht mehr voraus. Deutschland hat mittlerweile eine wahnsinnig starke Hochküche. Was ich persönlich schade finde ist, dass wir sehr lange nicht unseren eigenen Weg gegangen sind. Wir Deutsche sind gute Handwerker, gute Perfektionisten, wir sind konstant was die Qualitätshaltung angeht, aber uns fehlte in der Vergangenheit komplett die eigene Identität.
Sie selbst haben ja zwei Michelin-Sterne und siebzehn Gault-Millau-Punkte. Wie wichtig sind Auszeichnungen dieser Art für einen Spitzenkoch?
Ausschlaggebend, warum ich hier im „Rutz“ angefangen habe, war, dass ich das Konzept mitschreiben konnte. Ich verbringe wahnsinnig viel Zeit mit dem was ich tue, mit einer wahnsinnigen Leidenschaft und ich hatte schon immer eine eigene Idee von dem, was ich machen möchte. Und dann stand man immer vor dem Problem, dass Restaurantkritiker entweder noch nicht so weit waren oder es nicht für wertig genug angesehen haben, weil wir in der Vergangenheit sehr stark nach französischen Wertkriterien bewertet wurden und überhaupt nicht nach unseren Wurzeln, nach unserer Esskultur.
Mir war meine eigene Selbstentwicklung aber immer wichtiger als die Lobhudelei. Und darum haben wir gesagt, wir starten komplett ohne Bewertung. Mir war das eigene Empfinden, der Spaß am Kochen, die Kreativität wichtiger und der Rest ist daraus entstanden. Die Bewertung von Michelin finde ich wichtig, weil es für mich das einzige greifbare Bewertungskriterium ist, welches national und international bedeutsam ist.
Ich mache mir sehr große Sorgen um die deutsche Gastronomie.
Sternekoch Christian Bau hat 2018 das Bundesverdienstkreuz bekommen. Neben der Freude darüber mischte sich aber auch Ärger über die bisher fehlende Wertschätzung der deutschen Spitzküche, gerade durch die Politik. Hat er Recht?
Das ist so. Es ist in der Tat so, dass es in Deutschland nicht frevelhaft ist, ein großes Auto zu fahren, es aber als überflüssiger Luxus gilt, besser essen zu gehen. Das hat sich in Berlin teilweise verändert, aber nehmen wir mal ein teureres Restaurant irgendwo auf dem Land. Da würden die, die es irgendwie geschafft haben, nicht in das Restaurant in ihren Ort gehen, weil sie Angst hätten jemand könnte denken, dass sie zu viel Geld hätten. Wir sind eben auch ein Volk der Neider.
Man sieht nicht die Qualität dahinter, den Genuss, die Ware, das Handwerk, die Kunst, sondern man sieht nur den Preis. Wenn ich meine Karte im Restaurant anschaue, so zum Beispiel unser 9-Gänge-Menü, welches mit Kleinigkeiten ca. 15 Gänge umfasst, so empfinde ich es als nicht zu teuer. Und da liegt das Problem, es wird von der Politik und auch oft in der Gesellschaft nicht als Kultur, nicht als exzellentes Handwerk, als Kunst anerkannt und unterstützt. Wenn wir zum Beispiel eine Anfrage für ein Staatsbankett bekommen und uns 35 Euro Wareneinsatz pro Kopf zur Verfügung gestellt werden, dann ist das eine Missachtung unseres Personals und unserer Arbeit. Hier stehen Menschen, die später eine Familie zu ernähren haben. Hinzukommt, dass man vernünftige Produkte, die nicht aus einem Chemiebaukasten stammen, verwenden möchte. Da habe ich mit diesem Budget gar keine Chance.
Dabei präsentiert man bei Staatsempfängen ja sein Land und könnte stolz auf eine eigene Esskultur und die heimischen Produkte sein. Aber bei uns ist Essen immer noch eher eine Nahrungsaufnahme als wirklicher Genuss oder auch der Respekt der einzelnen Qualitäten.
Kinder müssen schon in den ersten Lebensjahren erfahren, was gut für ihre Ernährung und ihren Körper ist.
Vor welchen Herausforderungen stehen heute Gastronomen und welche Unterstützung wünschen Sie sich von Seiten der Politik?
Ich muss ganz ehrlich sagen, ich mache mir sehr große Sorgen um die deutsche Gastronomie. Wir selbst können uns nicht beschweren, wir sind jeden Abend ausgebucht, wir finden durchgängig sehr, sehr gutes Personal. Aber als ich hier vor 15 Jahren angefangen habe, bekam ich 10 Bewerbungen pro Tag auf den Tisch. Die Zeiten sind lange vorbei. Viele Menschen sind heute nicht mehr bereit, diese Arbeit auszuüben, diese Arbeitszeiten anzunehmen. Dabei ist Koch ja nicht der einzige Beruf mit Schichtsystem, ich denke nur an Polizisten, Feuerwehrmänner, Krankenschwestern, Ärzte etc. Aber es ist eben ein Beruf, bei dem man, teilweise auch durch die Nichtachtung, sehr schlecht bezahlt wird. Und wenn man nicht nur darüber nachdenkt, seiner Leidenschaft zu folgen, sondern auch darüber nachdenkt, später eine Familie zu gründen und ernähren zu wollen, ein gutes Leben zu führen - dann ist das mit den Gehaltsstrukturen sehr schwer geworden.
Das hängt aber auch mit der mangelnden Wertschätzung von Essen und dem geringen Respekt für das Handwerk der Köche zusammen. Wenn ich bei einem Pariser Kollegen etwas essen gehe, dann kostet das Menü zweieinhalb Mal so viel wie bei uns und ist auch nicht besser. Aber er kann seine Leute bezahlen und wir müssen schon sehr viel veranstalten damit wir eine personelle Zufriedenheit hervorrufen können. Das sind definitiv Hebel, an denen angesetzt werden muss. Der Bäckerstand steht vor dem Aussterben, der Metzgerstand steht vor dem Aussterben und nun ist es mittlerweile so, dass Gastronomen oft keine Mitarbeiter mehr finden und deswegen sogar schließen müssen.
Was müsste sich konkret ändern?
Die Wertschätzung von gutem und gesundem Essen müsste steigen. Ich glaube, da muss schon in der Schule draufeingegangen werden: wie ernähre ich mich gesund, was macht das Essen mit meinem Körper, welche Esskultur pflegen wir. Das müsste sich auch in den Kantinen widerspiegeln. Dann ist das natürlich eine monetäre Sache, bei der auch der Staat eingreifen muss.
Die Kinder müssen schon in den ersten Lebensjahren erfahren, was gut für ihre Ernährung und ihren Körper ist. Das wird sie prägen und sie können es dann weitergeben. Esskultur entsteht also schon in den Kindergärten und damit auch die Wertschätzung für Essen und das Handwerk, das dahintersteht.


